„Erinnerungsdiskurse und Menschenfeindlichkeit in Kirche und Gesellschaft. – Traditionslinien und aktuelle Anlässe“
Zum Abschluss der zweiten Ost-West-Fachkonferenz der Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus (BAG K+R) unter dem Motto „Erinnerungsdiskurse und Menschenfeindlichkeit in Kirche und Gesellschaft. Traditionslinien und aktuelle Anlässe“ am 23./24. November 2012 in Nürnberg erklären die über 110 TeilnehmerInnen aus Kirche und Zivilgesellschaft:
Wir können uns in Deutschland nicht sinnvoll mit Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus auseinandersetzen, wenn wir nicht den Nationalsozialismus und seine
Bearbeitung nach 1945 thematisieren. Denn sowohl die Opfer als auch die TäterInnen stellen diesen Bezug her: Jeder rassistische Angriff, jede antisemitische Friedhofsschändung, jeder Brandanschlag auf Häuser, die von MigrantInnen sowie von Roma oder Sinti bewohnt werden, werden von den betroffenen Gruppen vor dem Hintergrund der Ermordung von sechs Millionen Juden und Jüdinnen und dem NS-Völkermord an mindestens 500.000 Roma und Sinti in ganz Europa wahrgenommen. Auch bei den TäterInnen ist der Bezug unübersehbar: in ihrer Verherrlichung von NS-Größen, ihren Selbstbildern als „politische Soldaten“ nach dem Vorbild der SS, ihrem eliminatorischen Rassismus und der Leugnung bzw. Verherrlichung des Holocaust. Wir weisen mit Entsetzen darauf hin, dass die extrem Rechte versucht, die Menschenfeindlichkeit und das systematische Morden des NS als ihren eigenen Beitrag in den gesellschaftlichen Erinnerungsdiskurs einzubringen und dabei nicht
auf die notwendige entschiedene Ablehnung in der Gesellschaft trifft. Die Tradierungslinien von Antisemitismus und Rassismus in Deutschland sind durch die Befreiung vom 8. Mai 1945 unterbrochen, aber nicht verschwunden, auch wenn sich die Erscheinungsformen verändert haben.
Erinnerungsarbeit hat hier insbesondere auch vor Ort anzusetzen, indem sie über NSVergangenheit aufklärt und Bezüge zur Gegenwart herstellt. Sie braucht gerade in ihrer Vielfalt Wertschätzung. Damit werden Räume demokratisch besetzt und einer politisch rechtsextremen und rechtspopulistischen Nutzung entzogen. Wir setzen uns dafür ein, dass unsere Erinnerungskultur die Vielfalt der deutschen Einwanderungsgesellschaft widerspiegelt und dabei menschenverachtende Einstellungen und Handlungen ausschließt. Ein Jahr nachdem bekannt geworden ist, dass der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) für die rassistische Mordserie und zwei Sprengstoffanschläge mit mehr als zwei Dutzend Verletzten verantwortlich ist, fordern wir die politisch Verantwortlichen und die Kirchen zu entschlossenem und nachhaltigem Handeln gegen Rassismus und Ideologien der Ungleichwertigkeit auf: Das Versagen staatlicher Organe bei der Aufklärung der rassistischen Mordserie und der Fahndung nach dem untergetauchten Kerntrio des NSU und dessen UnterstützerInnen hat seine Ursachen sowohl in Rassismus als auch in einer jahrzehntelangen Verharmlosung der Gefahr durch die extreme Rechte. Dementsprechend müssen als Konsequenzen daraus auch die Auseinandersetzung mit Rassismus und der extremen Rechten gleichwertig in Angriff genommen werden.
Angemessenes Gedenken und eine offene Erinnerungskultur müssen Auswirkungen auf unser Handeln in der Gegenwart haben. Deshalb halten wir es für menschenverachtend und zynisch, dass am Tag der Einweihung des Mahnmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Roma und Sinti durch Bundeskanzlerin Angela Merkel parallel Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich eine rassistische Kampagne gegen die Aufnahme von Roma-Flüchtlingen aus Mazedonien und Serbien begonnen hat. Zudem fordern wir Bundespräsident Joachim Gauck auf, die Angehörigen der Mordopfer des NSU zu empfangen. Ein derartiger Schritt ist dringend notwendig, um das Vertrauen der Angehörigen dieser in der Geschichte der Bundesrepublik beispiellosen rassistischen Mordserie und vieler MigrantInnen in den Rechtsstaat wieder herzustellen und ein deutliches gesellschaftliches Zeichen zu setzen.
Konkret fordern wir:
Von den politisch und gesellschaftlich Verantwortlichen:
- ein sofortiges Ende rassistischer und antiziganistischer Stimmungsmache gegen Asylsuchende
und Flüchtlinge. Vor dem Hintergrund des NS-Völkermords an Roma und Sinti
in ganz Europa und den Erfahrungen aus den Pogromen von Rostock-Lichtenhagen und
der nachfolgenden Welle rassistischer Gewalt in Deutschland erinnern wir insbesondere
Bundesinnenminister Friedrich nachdrücklich an seine politische Verantwortung dafür,
dass Flüchtlinge und Asylsuchende in Deutschland geschützt werden müssen. - die Abschaffung der Residenzpflicht, das Recht auf Freizügigkeit sowie zur Arbeitsaufnahme
für Asylsuchende, wie von den bundesweiten Flüchtlingsprotesten gefordert.
Die Abschaffung von Gesetzen, die zu einer Ausgrenzung von tausenden von Menschen
aus dem gesellschaftlichen Leben führen, ist überfällig und würde zudem rassistischen
Zuschreibungen und Vorurteilen den Boden entziehen. - die dauerhafte Einrichtung und Finanzierung der vielfältigen zivilgesellschaftlichen
Projekte für demokratische Kultur und die Beratung für Opfer extrem rechter und rassistischer
Gewalt in Ost- und Westdeutschland. Damit stellt sich die Bundesregierung
wirklich an die Seite derer, die sich tagtäglich für Demokratie einsetzen und ins Visier
rassistischer Gelegenheitstäter und organisierter Neonazis geraten. - die finanzielle Ausstattung für die Orte der Erinnerung aufzustocken und die Gewährleistung
sowie Sicherstellung der entsprechenden erinnerungspolitischen Bildungsarbeit. - die Schaffung eines Landesprogramms gegen Rechtsextremismus in Bayern, das
zivilgesellschaftliche Strukturen fördert: wegen der massiven Präsenz von Neonazis in
vielen bayerischen Kommunen und ihrer für viele Menschen bedrohlichen Aktivitäten,
aber auch angesichts der NSU-Morde an Enver Simsek, Abdurahim Özüdogru und Ismail
Yasar in Nürnberg und Habil Kilic und Theodoros Boulgarides in München und einer
Tradition extrem rechten Terrorismus (Oktoberfestattentat, Wehrsportgruppe
Hofmann usw.). Wir nehmen mit Genugtuung wahr, dass AIDA nicht mehr im
Bayerischen Verfassungsschutzbericht erwähnt wird und fordern auch die sofortige
Aufgabe der Beobachtung des VVN/ BdA
Wir unterstützen den Aufbau der unabhängigen Beobachtungsstelle „NSU-watch:
Aufklären und Einmischen“, denn die rassistische Mordserie des NSU markiert eine Zäsur in
der bundesrepublikanischen Geschichte. Aus Solidarität mit den Hinterbliebenen der NSUMordopfer
und den Betroffenen der NSU-Bombenanschläge sind wir davon überzeugt, dass
es einer informierten Öffentlichkeit bedarf, um parlamentarisch, außerparlamentarisch und
gegebenenfalls juristisch zu intervenieren und eine wirklich umfassende Aufklärung des
Staatsversagens im NSU-Komplex durchzusetzen.
Von den Verantwortlichen in den Landeskirchen und Bistümern fordern wir: - die intensive Auseinandersetzung und Aufarbeitung der eigenen Rolle im Nationalsozialismus
weiterzuführen und in Konsequenz daraus aktuelles Handeln zu reflektieren - die Einstellung der Unterstützung rechter Publikationen und Gruppen durch die
Landeskirchen und Bistümer - sich entschieden und offensiv an die Seite von Minderheiten und Schutzbedürftigen zu
stellen und dementsprechend sich für die Forderungen der protestierenden Flüchtlinge
gegenüber den politisch Verantwortlichen einzusetzen - die Themen Rassismus und Rechtspopulismus nicht zu verharmlosen, sondern als Grundproblem
und Struktur unserer Gesellschaft zu verstehen und die öffentliche Auseinandersetzung
darüber zu suchen und engagiert voranzubringen - eine unabhängige und umfassende qualitative Einstellungserhebung ihrer Mitglieder in
Auftrag zu geben. Menschenfeindliche Einstellungen sind ein Problem bei Kirchenmitgliedern.
Repräsentative Ergebnisse können Grundlage für verbesserte Präventionsmaßnahmen
und Bildungsaktivitäten in allen Bereiche kirchlichen Lebens darstellen. - die innerkirchliche Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus und Rassismus durch
jeweils eigene Aktivitäten und Programme zu intensivieren und diejenigen Gemeinden
und Initiativen solidarisch zu unterstützen, die sich aktiv vor Ort gegen die extreme
Rechte und Rassismus einsetzen. Die EKD und die Deutsche Bischofskonferenz mögen
diese Aktivitäten überregional stärken und begleiten. - die Unterstützung der Arbeit des „Runden Tisches Rechtsextremismus der ELKB“ durch
die Kirchenleitung und die Landessynode.Wir ermuntern die Synodalen der ELKB bei der
ELKB-Synode in Hof, das Engagement gegen Rechtsextremismus durch Finanzmittel und
Konzepterstellung zu unterstützen. Die ELKB muss sich auf Landesebene politisch
einbringen und regional zivilgesellschaftlich handeln. - die Unterstützung des notwendigen sichtbaren Protests gegen Neonazis und
christlicher Blockadepunkte gegen Neonaziaufmärsche in Ost- und Westdeutschland –
sei es in Dresden, Magdeburg oder in Dortmund
Die TeilnehmerInnen der 2. Ost-West-Fachkonferenz
der Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus,
Nürnberg, am 24.11.2012