Es gibt eine deutliche Zunahme von antisemitischen Gewalttaten in Europa – bei den islamistischen Terroranschlägen in Brüssel, Paris und Kopenhagen wurden Juden ermordet, weil sie Juden waren. International stieg die Zahl antisemitisch motivierter Gewalttaten um 38 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Daher ist es wenig überraschend, dass im letzten Jahr Berichte über eine tiefgehende Verunsicherung in den europäischen jüdischen Gemeinden zunahmen. Unter Jüdinnen und Juden in Europa geht Angst um. Wir sind entsetzt über diese Entwicklung.
Bereits im Sommer 2014 zeigten Demonstrationen anlässlich des letzten Gaza-Krieges in vielen deutschen Städten ein großes Potential an Judenhass auf, das sich in Parolen wie „Kindermörder Israel“ und „Hamas, Hamas, Juden ins Gas“ äußerte.
Es ist zu einfach, für antisemitische Stimmungen in Deutschland und Europa ausschließlich Neonazis oder Islamisten verantwortlich zu machen. Es ist erstens unübersehbar, dass es nicht wenige Muslime gibt, die sich gegen Judenhass stellen. Sie müssen von allen Seiten Unterstützung erfahren. Es ist zweitens aber auch unübersehbar, dass in der säkularen Mitte unserer Gesellschaft und unter Christinnen und Christen antijüdische Denkmuster weiter existieren. Auf den Antisemitismus der säkularen Mitte weisen Studien des Instituts für Konfliktforschung (IKG) der Universität Bielefeld seit langem hin.
Dieser säkulare Antisemitismus der Mitte knüpft an eine jahrhundertelange Geschichte des christlichen Antijudaismus an, die bis heute wirkt. Ein wesentliches Element ist dabei die sogenannte Substitutionstheologie oder auch Enterbungstheologie – das heißt der Glaube, der Bund Gottes mit dem jüdischen Volk sei gekündigt, da das Judentum Jesus Christus zurückgewiesen habe. Wir wenden uns gegen alle gegenwärtigen Versuche, an diese unselige Tradition der Enterbungstheologie wieder anzuknüpfen. Wir folgen stattdessen den Grundordnungen der evangelischen Landeskirchen sowie den einschlägigen katholischen Erklärungen, in denen unmissverständlich festgestellt wird, dass der Bund zwischen Gott und dem jüdischen Volk nicht gekündigt ist, und dass die Juden das auserwählte Volk Gottes bleiben.
Es ist unerträglich, wenn immer wieder das vermeintlich nur friedliche Neue Testament gegen die vermeintlich gewalttätige hebräische Bibel ausgespielt wird. Alle Teile der Bibel gehören zusammen, und müssen im Zusammenhang gelesen werden.
Antijüdisch ist auch eine exklusive Vorstellung von christlichem Universalismus. Ein Christentum aber, das sich allein universell versteht, das Judentum als partikular denunziert, übersieht, dass in der ganzen Bibel der Zusammenhang von Universalität und Partikularität konstitutiv ist. Ein Christentum, das glaubt, allein im Besitz der Wahrheit für alle Menschen zu sein, ist inhuman – denn es kann auch andere Abweichungen vom vermeintlich universellen, also allgemeingültigen Glauben nicht dulden.
Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Dr. Reinhard Marx, und der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Landesbischof Dr. Heinrich Bedford-Strohm stellten in einer Erklärung zum 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz zurecht fest: „Als Christen können wir auch der Frage nicht ausweichen, warum die Verbrechen von Auschwitz auf einem Kontinent geschahen, der seit mindestens einem Jahrtausend vom Christentum geprägt wurde.“
Auch in der Debatte über den Nahostkonflikt sind die Ideologeme des christlichen Antijudaismus präsent. Wir sehen vielfältige Versuche, Israel zu delegitimieren.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus befürwortet alle Bestrebungen in den Kirchen und anderswo, sich für eine gerechte Friedenslösung einzusetzen und Menschenrechtsverletzungen beider Konfliktparteien zu verurteilen. Es ist entschieden zu kurz gedacht und wird der Komplexität der Situation im Nahen Osten nicht gerecht, Israel allein in der Rolle des Täters und die Palästinenser in der Rolle der Opfer zu sehen. Wir weisen alle Versuche zurück, das Existenzrecht Israels in Frage zu stellen, es mit NS-Vergleichen zu dämonisieren oder in der oft berechtigten Kritik an der israelischen Regierung Doppelstandards anzusetzen.
Wir rufen die Kirchenleitungen sowie alle Christinnen und Christen deshalb dazu auf, die Inhalte der kirchlichen Erklärungen zum christlich-jüdischen Verhältnis in den Gemeinden besser verständlich zu machen und diese klar und selbstbewusst zu vertreten.