Veranstaltungen  -  23. April 2024

Rückblick: Gender ohne Trouble?!

„Gender ohne Trouble?! Anti-Gender-Diskurse und Gegenstrategien in Kirche und Gesellschaft“

am 30.11./1.12.2023 in Hannover

Ende letzten Jahres, am 30. November und 1. Dezember fand in den schönen Räumlichkeiten des Stephansstift Zentrum für Erwachsenenbildung in Hannover die Fachtagung „Gender ohne Trouble?! Anti-Gender-Diskurse und Gegenstrategien in Kirche und Gesellschaft“ statt. Die Tagung war eine Kooperationsveranstaltung der Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und

Rechtsextremismus, des Studienzentrums der EKD für Genderfragen in Kirche und Theologie, des Katholischen Deutschen Frauenbundes e.V. (KDFB) und des Projekts „Kirche für Demokratie. Verantwortung übernehmen – Teilhabe stärken“ der Katholischen Erwachsenbildung im Land Sachsen-Anhalt e.V.

Die Tagung, zu der etwa 50 Teilnehmende erschienen waren, widmete sich dem breiten Feld allgegenwärtig anzutreffender Anti-Gender-Diskurse,

die auf vielfältige Weise mächtig und gewaltvoll sind, da sie Menschen und Demokratie bedrohen. Als sogenannte Brückenideologien sind sie keinesfalls auf rechtsextreme Kreise beschränkt, sondern ziehen sich durch Gesellschaft, kirchliche Räume und theologische Debatten und entfalten gerade durch ihre Anschlussfähigkeit an Ressentiments der extremen Rechten ihr großes Gefahrenpotenzial. Darauf wies Henning Flad, Projektleitung BAG K+R, in seiner Begrüßungsrede hin. Der kirchliche Raum und in ihm tätige zivilgesellschaftliche Engagierte stehen daher vor der Herausforderung, Anti-Gender-Bewegungen zu kennen, ihre Strategien zu verstehen, Anti-Gender als Ideologie kritisch zu hinterfragen und sich klar zu positionieren, auch in Verbindung mit (Kirchen)Politik. Dazu leistete die Tagung einen Beitrag.

Den Auftakt machte Dr. Jasmin Siri, Post-Doc am Institut für Soziologie der LMU München, Lehrbereich Allgemeine Soziologie und Gender Studies, mit ihrem Vortrag „Kampfzone Gender: Zur sozialhistorischen und politischen Genese der modernen Anti-Gender-Bewegung“. Ausgehend von der von ihr aufgeworfenen Ausgangsfrage „weshalb eignen sich Gender Studies scheinbar so sehr für polarisierende Auseinandersetzungen?“ gab sie zunächst einen Einblick in Forschungszugänge zu Gender Studies, zeichnete dann die Genese der Anti-Gender-Bewegung mit Schwerpunkt auf Deutschland nach und schloss mit der Frage „was hat (christliche) Religion damit zu tun?“. In ihrem Vortrag arbeitete Jasmin Siri heraus, dass der Begriff „Gender“, der sich intellektuell schwer bearbeiten lässt, als leerer Signifikant und Projektionsfläche dient und damit einhergehend Gender Studies, Gender Mainstreaming, Sexualpädagogik, gendersensible Sprache und Maßnahmen der Liberalisierung der Geschlechterverhältnisse miteinander vermischt werden. Sie zeigte auf, wie sich dies rechte Anti-Gender-Thinktanks, wie die Agenda for Europe, zunutze machen, wie sie finanziert werden und was ihre Ziele sind. Zu diesen gehören u.A. ein Verbot von Abtreibung, ein Verbot bzw. die Bekämpfung von Homo- und Transsexualität sowie ein Verbot bzw. die Einschränkung von Verhütungsmitteln. Jasmin Siri richtete sodann den Blick auf Deutschland und schaute hier auf die Allianz des christlichen Fundamentalismus, der extremen Rechten und des Rechtspopulismus. Ihr Vortrag schloss mit wertvollen Quellen und Literaturempfehlungen zu diesem breiten Themenkomplex.

Nach einer regen Diskussion und angemessen Pause, schloss sich ein Vortrag von Judith Rahner, Leiterin der Fachstelle Gender, GMF und Rechtsextremismus der Amadeu-Antonio-Stiftung, mit dem Titel Anti-Gender als Kernthema der extremen und „Neuen“ Rechten an. Sie verwies darauf, dass die Kategorie Geschlecht in der extremen Rechten eine signifikante Rolle spielt, dass in ihr ein dichotomes, patriarchales Geschlechterverhältnis vorherrscht, das von starren Konstruktionen vom „richtigen Mann“ und der „richtigen Frau“ getragen wird und dass die starke Orientierung an Mutterrolle und Familie ein Identifikationsangebot für junge Frauen bereithält, das nicht zu unterschätzen ist. Die Mutterschaft wird als eigentliche Bestimmung der Frau angesehen, sie wird aber auch mit politischer Arbeit verbunden, indem darauf hingearbeitet wird, die Gesellschaft so umzugestalten, dass Frauen nach ihrer „eigentlichen“ Bestimmung leben können. Judith Rahner warf in ihrem Vortrag die Frage auf, warum Anti-Gender so gut funktioniert, und hielt einige Antworten parat. Zum einen knüpfen antifeministische Erzählungen und Desinformationen, wie „Gender“ zerstöre „richtige“ Frauen und Männer, an einen unhinterfragten Alltagsverstand der Natürlichkeit zweier Geschlechter und einer heteronormativen Ordnung an. Zum anderen werden innerhalb des Diskurses Mobilisierungsthemen wie Kinderschutz und Frühsexualisierung adressiert und damit ein Bedrohungsgefühl erzeugt, dass nicht nur in rechtsextremen Milieus verfängt, sondern eine Wirkung bis in die Mitte der Gesellschaft entfaltet. Anti-Gender erfüllt also eine Scharnierfunktion zwischen unterschiedlichen rechtsextremen Milieus und der Mitte der Gesellschaft. Darin liegen eine große Gefahr und Herausforderungen für die Praxis.

Den beiden Vorträgen schloss sich eine Lektürewerkstatt an, die es den Teilnehmenden ermöglichte, sich aufgeteilt in fünf Lektüreecken mit verschiedenen Texten zu Spielarten (maskulistische, rechtsextreme, religiöse, „wissenschaftliche“ und radikalfeministische) von Anti-Gender auseinanderzusetzen.

Der erste Tagungstag klang mit einem Pianospiel von Lennart Smidt und einem gemeinsamen Abendessen aus.

Der zweite Tagungstag begann früh mit einem Vortrag von Ruth Heß, Theologische Studienleitung und Geschäftsführung des Studienzentrums der EKD für Genderfragen in Kirche und Theologie, zum Thema Gefrierbrand. Von welcher Theologie lebt der (religiöse) Anti-Gender-Diskurs?“. Ruth Heß eröffnete ihren Vortrag mit einem Zitat von Michel Foucault »Der Diskurs mag dem Anschein nach fast ein Nichts sein […]. [E]r ist [aber] dasjenige, worum und womit man kämpft; er ist die Macht, derer man sich zu bemächtigen sucht.« und nannte gleich eingangs drei Gründe, die dafürsprechen, die theologischen Motive im Anti-Gender-Diskurs ernst zu nehmen. Diese sind:

  1. Im religiösen Gewand lassen sich illiberale Geschlechterpolitiken von einer säkularen Öffentlichkeit nur schwer entschlüsseln.
  2. Geschlechterthemen dienen als zentraler Transponder populistischen Denkens in bürgerliche und besonders religiöse und kirchliche Milieus hinein.
  3. In kirchlichen Debatten beansprucht eine kleine Minderheit die größte Prägekraft, indem sie offensiv theologisch auftritt.

Ausführlich ging Ruth Heß auf die gängigsten Motive in ihrem Zusammenhang ein und bediente sich dabei anschaulicher Begriffe: Sogenannte Rahmengrammatiken, wie das Naturrecht und die Schöpfungsordnung steuern wie ein Vorzeichen vor der Klammer (ursprünglich von Gott selbst geordnet). Applikationen, wie die Theologie des Leibes, die Ökologie des Menschen oder auch evangelikale Theologien der Heteronormativität sorgen für ein modernisiertes, an progressive Themen anknüpfendes Gewand, während die Rahmengrammatik bestehen bleibt. Katalysatoren dynamisieren den Anti-Gender-Diskurs, indem zum Beispiel eine Kultur des Lebens gegenüber einer Kultur des Todes postuliert wird. Akteur*innen stilisieren sich in diesem Zusammenhang zu Opfern, die sich wehren müssen, z.B. gegen den Gender-Wahn und die sich im Kampf um Menschenrechte befinden, in welchen sie eigentlich nur aus Notwehr eingetreten sind. Während sich die römisch-katholische Kirche am produktivsten am Anti-Gender-Diskurs beteiligt (Ruth Heß belegte dies mit eindrucksvollen Zitaten von Benedikt XVI., aber auch schon von Johannes Paul II.), bedienen sich Protestant*innen hier nur ohne selbst kreativ zu werden. Es bildet sich eine Art Anti-Gender-Ökumene, die sich in der Art und Weise der Argumentation gleicht, wie diskursanalytisch beobachtet werden kann. Dabei folgen die Argumentationslinien den Überschriften „Naturrecht“ und „Ökologie des Menschen“. Gleichstellung erscheint als Vergehen an der Menschlichkeit, gleichgeschlechtliche Ehe als „Vergewaltigung“ der Schöpfung, bzw. des Naturrechts. Die Natur des Menschen als Mann und Frau wird als unhintergehbare Schöpfungsordnung postuliert, die von „Gender“ bedroht ist, die es aber zu schützen und zu bewahren gilt. Dieses Argumentationsmuster wirkt bis in antifeministische Kreise in die Mitte der Gesellschaft hinein, wie am Beispiel Birgit Kelle oder auch dem Netzwerk ›Agenda Europe‹ veranschaulicht werden kann. Populismus lebt von Polarisierung. Ruth Heß widmete sich in ihrem Vortrag abschließend der Frage, wie dem begegnet werden kann und schlug vor, verletztes religiöses Alltagswissen zu heilen, indem eine alternative Rahmengrammatik gesucht wird. Die christliche Dogmatik bietet dazu zahlreiche Anknüpfungspunkte, wie z.B. das dreiteilige Bekenntnis. Das Fazit, das Ruth Heß in ihrem Vortrag zog lautet, dass Anti-Gender-Diskurse theologisch kaum Substanz haben, dadurch aber theopolitisch umso gefährlicher sind. Dies macht die Suche nach einer alternativen Rahmengrammatik umso dringlicher.

In zwei umfangreichen Workshop-Phasen, die durch eine gemeinsame Mittagspause unterbrochen waren, konnten die unterschiedlichen Aspekte des Tagungsthemas noch einmal vertieft werden. Den Teilnehmenden war es dabei möglich jeweils zwischen vier verschiedenen Angeboten zu wählen. Es konnte der Frage nachgegangen werden, wie ein gelungener Umgang mit Anti-Gender im Bereich Social Media, Gleichstellungspolitik oder im kirchlichen Raum aussehen und wie Angriffen auf die LGBTIQ+-Community begegnet werden kann. Auch die Themen Intersektionalität, hegemoniale Männlichkeit und dem Anti-Gender-Diskurs in Osteuropa konnten in Workshops vertieft werden.

Die Tagung endete Am Freitagnachmittag und entließ die Teilnehmenden mit einer Menge an Input in das 1. Adventswochenende.

 

Die Dokumentation wurde von Kathrin Wahnschaffe-Waldhoff , vom Studienzentrum der EKD für Genderfragen in Kirche und Theologie, verfasst.